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Wenn der Bagger beim Grab der Eltern auffährt

Nach spätestens 30 Jahren werden die Grabfelder auf den Friedhöfen geräumt. Was bedeutet das für die Angehörigen? Und warum wird die Grabesruhe immer häufiger verkürzt? Ein Beispiel aus Wimmis liefert Antworten.

Es ist bereits Gras über die Sache gewachsen. Und man muss schon genau hinsehen, damit einem der Unterschied auffällt. Etwas satter, dunkler ist der Grünton im Vergleich zum benachbarten Stück Wiese. Nichts deutet mehr darauf hin, dass hier vor etwas mehr als einem Monat noch etwa 30 Grabsteine gestanden haben. Es sei ein eigenartiges Gefühl gewesen, den Bagger auf dem aufgerissenen Erdreich zu sehen, meint Ruth Lörtscher. Auch das Grab ihrer Eltern wurde im Zuge der Räumung von Grabfeld 1 aufgehoben. Zwar sei stets klar gewesen, dass die Grabes­ruhe irgendwann ablaufen würde, und die Gemeinde habe auch frühzeitig über die Aufhebung informiert, aber als der Tag tatsächlich gekommen war, wühlte er doch wieder etwas auf – auch 30 Jahre nach dem Tod des Vaters und 15 Jahre nach der Beisetzung der Mutter.

Rein technisch gesehen ist gar nicht viel passiert auf dem Wimmiser Friedhof. Wie immer wieder mal in einem Frühjahr, zuletzt vor sieben Jahren, wurde ein Grabfeld nach Ablauf der Grabesruhe geräumt, wurden Pflanzen und Umrandungen entfernt und die Grabsteine abtransportiert. Die oberste Erdschicht, 15 bis 25 Zentimeter, hat das Team um Werkhofleiter Markus Hiltbrand abgebaggert, anschliessend neuen Humus verlegt und Gras eingesät. Nun ruht Grabfeld 1 – nach Angaben von Gemeindegärtner Daniel Lehnherr mindestens weitere 50 Jahre. Erst danach könnten hier wieder Bestattungen stattfinden. Auch dann käme beim Graben in 1,80 Metern Tiefe hin und wieder ein Knochen zum Vorschein. «Aber das ist die Ausnahme», so Lehnherr.

Gestorben sei ihr Vater zu Hause, von wo der Leichnam in die kleine Aufbahrungshalle auf dem Wimmiser Friedhof transportiert worden sei, erinnert sich Ruth Lörtscher. Man kümmerte sich nach Möglichkeit bis zuletzt zu Hause um die Eltern, so wie damals üblich. Dass sie danach auch das Grab der Eltern pflegen würden, war für die Angehörigen selbstverständlich – «allein schon aus Dankbarkeit». Und so haben sie es getan, 30 Jahre lang. Dass dies aber längst nicht mehr für alle Angehörigen gilt, weiss Daniel Lehnherr aus seiner Arbeit auf dem Friedhof.

Pflanzen und Unkraut wuchern, einige Gräber verwahrlosen. «Manchmal kann die Gemeinde nicht einmal mehr die Angehörigen kontaktieren, weil sie deren Adressen nicht hat», berichtet der Gärtner. Und diese zunehmend fehlende Bereitschaft einiger Angehörigen, die Gräber zu pflegen, habe schliesslich den Gemeinderat dazu bewogen, das Friedhofsreglement zum Januar 2018 zu ändern, wie Gemeinderatspräsidentin Barbara Josi erklärt. So wurde die minimale Grabesruhe wie in anderen Gemeinden auch von 30 auf 20 Jahre verkürzt (siehe Interview). «Und das eben nicht, weil wir zu wenig Platz auf dem Friedhof hätten», so Barbara Josi, «im Gegenteil.» Da die Zahl an ­individuellen Erdbestattungen deutlich abgenommen habe, wolle die Gemeinde in Zusammenarbeit mit der Kirchgemeinde nun zudem das Gemeinschaftsgrab im kommenden Jahr attraktiver gestalten.

Für Ruth Lörtscher und ihre Geschwister hatte sich die Frage nach einem Gemeinschaftsgrab nie gestellt. Man kam gerne zum Grab der Eltern auf dem kleinen Friedhof, an dessen Rand Kirche und Schlossturm weiss und braun gedeckt über den Baumwipfeln hervorragen, im Hintergrund der Niesen, auf der anderen Seite das Niederhorn. «Man hatte immer einen Ort des Andenkens, den es nun nicht mehr gibt», sagt sie. «Und einen Ort der Begegnung.» Denn wie sie so vor dem leeren Gräberfeld steht, kommt eine ehemalige Schulfreundin mit ihrem Mann vorbei, Harke und Setzkörbchen in der Hand. 30 Blumen habe sie soeben gepflanzt, sagt diese. «Jetzt gehe ich nach Hause und ruhe mich aus.» Es ist heiss, und das Alter fordert seinen Tribut.

Was eigentlich aus den Grabsteinen wird, fragt man sich unwillkürlich beim Gang über den Friedhof. Bis auf wenige Ausnahmen seien die zu Vigier ins Kieswerk gebracht worden, wo sie verkleinert und als Strassenunterlage verwendet würden, erklärt Daniel Lehnherr. Nicht so der Grabstein der Eltern von Ruth Lörtscher. Aus dem formt der Steinmetz ein Vogelbecken, das dann im Garten des Elternhauses aufgestellt wird. «Das ist eine schöne Sache. Ich bin sehr froh darüber.» Und so lebt die Erinnerung in den Herzen weiter.

Wie ist es in anderen Gemeinden geregelt?
Nach Auskunft von Rolf Widmer vom Amt für Gemeinden und Raumordnung ist die minimale Grabesruhe im Kanton Bern auf 20 Jahre festgelegt. Eine Obergrenze sei kommunal frei wählbar. Dementsprechend unterschiedlich wird sie in den Gemeinden im Oberland gehandhabt. In Grindelwald, Innertkirchen oder Diemtigen sind 25 Jahre vorgesehen. In den Friedhofsreglementen von Interlaken, Thun, Spiez oder Wimmis wurde die minimale Grabesruhe auf 20 Jahre verkürzt. Nach wie vor 30 Jahre dürfen die Gräber in Frutigen und Kandersteg bestehen bleiben. Zwar sei die Zahl der Erdbestattungen in Frutigen zuletzt um 50 Prozent zurück­gegangen. Eine Verkürzung der Grabesruhe sei aber wegen der Beschaffenheit des Bodens kein Thema gewesen, sagt Gemeindeschreiber Peter Grossen.

Interview Pfarrerin Susanna Schneider Rittiner, reformierte Kirchgemeinde Spiez

Grabaufhebung klingt zunächst nach einem nüchternen Verwaltungsvorgang. Was bedeutet es aber für die Angehörigen?
Pfarrerin Susanna Schneider Rittiner: Für viele ist es einschneidend, wenn der Bescheid kommt, dass das Grab aufgehoben wird. Es geht um ein erneutes Loslassen, das ist nicht einfach. Einige fotografieren das Grab, um ein Andenken mit nach Hause nehmen zu können. Andere fühlen sich entlastet dadurch, dass dieser Abschnitt endgültig beendet ist.

In Spiez haben die Angehörigen die Möglichkeit, an einer Besinnungsfeier teilzunehmen, die ihnen diesen Schritt erleichtern soll. Seit wann gibt es das Angebot, und wie ist es entstanden?

Wir haben gesehen, dass das Bedürfnis da ist, Abschied zu nehmen; so haben wir zusammen mit der Gemeinde beschlossen, solche Feiern durchzuführen, die es seit 2013 gibt. Es handelt sich um ein ökumenisches Angebot. Die Feier am 2. Juni führe ich gemeinsam mit Gabriele Berz-Albert von der katholischen Kirchgemeinde Spiez durch.

Wie hat man sich eine solche Besinnungsfeier vorzustellen?
Es geht in erster Linie darum, sich wertschätzend an die Verstorbenen und an die gemeinsame Zeit zu erinnern. Dieses Gedenken geschieht mit dem Anzünden der Grabkerzen. Musik ist ebenfalls ein wichtiger Teil der Feier. Zudem sind ein Vertreter der Gemeinde und der Friedhofgärtner da, um konkrete Fragen im Zusammenhang mit der Grabaufhebung zu beantworten.

Wie wichtig ist das ­Abschiednehmen?
Es ist wichtig, die Angehörigen von dem Gefühl zu befreien, dass man nicht noch einmal alles verliert. Dazu kommt man hier noch einmal zusammen, um das gemeinsame Schicksal zu teilen, kann sich aber so auch wieder die Geschichten erzählen, die man zusammen mit dem Verstorbenen erlebt hat.

Welchen Stellenwert haben Gräber dabei?
Für die, die zu der Feier kommen, sind sie wichtig als ein Ort, an dem man die Trauer festmachen kann. Vor 20 Jahren waren individuelle Gräber noch viel wich­tiger als heute, wo es vermehrt Gemeinschaftsgräber gibt.

Was machen die Angehörigen, wenn ein Grab mit einem Mal nicht mehr da ist? Wo ist dann Platz für Trauer und Andenken?

Der Ort kann in den eigenen Erinnerungen sein, äusserlich ist der Ort ja nicht mehr da. Wie gesagt, das kann auch entlastend sein, wenn man einmal mehr die Möglichkeit hat, zu sagen, es ist gut so, wie es war.

Wenn vermehrt der Trend zu ­beobachten ist, dass die ­minimale Grabesruhe verkürzt wird, was sagt das über eine ­Gesellschaft aus?

Es hat wohl mit der fehlenden Sesshaftigkeit und der Mobilität zu tun, weil die Angehörigen oft nicht mehr die Möglichkeit haben, den Friedhof als Ort der Trauer aufzusuchen. Eine andere Sache beschäftigt mich im Moment aber mehr: Es gibt die Tendenz, gar keine Abschiedsfeier oder nur im engsten Familienkreis abzuhalten. Das bedauere ich sehr, weil man so vielen Menschen, die sich mit dem Ver­storbenen verbunden fühlen, die Möglichkeit nimmt, Abschied zu nehmen.

Quelle: Thuner Tagblatt, 01.06.2018, Claudius Jezella