«Die Kirche steht nicht nur mitten im Dorf – sie lebt auch noch», sagt Walter Graf. Getauft wurde der gebürtige Goldiwiler aber noch im Schulhaus, denn die Kirche stand damals noch nicht. Er ist ein Jahr älter als die Kirche, die dieses Jahr ihr 75-jähriges Bestehen feiert. Vier Tage lang beging Goldiwil das Jubiläum – mit verschiedenen Festanlässen, Musik, Essen und einem Jubiläumsgottesdienst. Denn das Gotteshaus, sagt das Festkomitee, sei für die Identität des Dorfes sehr wichtig. Walter Graf erinnert sich an eine Zeit, als es in und um die Kirche noch viel strenger und weniger feierlustig zu und her ging. «Zum Sonntagsgottesdienst musste man gehen. Dann sassen die Männer und Frauen getrennt in Sonntagskleidern auf den Holzbänken und hörten dem Pfarrer zu.» Auch die obligatorische Unterweisung sei eher eine Pflichtübung gewesen. Aber das Konfirmandenlager war «super». Für den Bauernsohn waren das die ersten richtigen Ferien. «Wir sind nach Aeschiried. Am Abend musste ich für einmal nicht wieder zurück im Stall sein.»
Ein Dorf ohne Kirche
Bis 1950 hatte Goldiwil-Schwendibach keine eigene Kirche. Gottesdienste fanden in Thun statt, Kinder mussten für den Unterricht ins Tal, und Verstorbene wurden auf dem Stadtfriedhof in Thun bestattet. Das erzählt Ernst Schneider in der Chronik «Goldiwil – Geschichte eines Dorfes». Nicht nur bedeutete das lange Wege für die Menschen, auch die seelsorgerische Betreuung im Dorf war schwach. Der Einfluss der Landeskirche schwand, andere Gruppierungen füllten das Vakuum. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren acht verschiedene Glaubensgemeinschaften im Gebiet der Kirchgemeinde aktiv, wie Schneider schreibt. Mit dem Bau der Kirche 1950 gab es einen festen Ort für Gottesdienste und einen zentralen Treffpunkt für das Dorf. «Mit der Kirche und später dem Kirchgemeindehaus erhielten die Goldiwiler nicht nur ein spirituelles Zuhause – sie bekamen einen Raum, in dem sich das Dorf als Gemeinschaft erleben konnte», sagt Verena Schär, Kirchgemeinderätin und Mitglied des Festkomitees.
Die Kirche als Dorfzentrum
Heute ist die Kirche mehr als nur ein Ort der Andacht. «Weil es hier keine Hotels und Restaurants mehr gibt und ausser dem Volg keine Läden, hat sie vermehrt den Charakter eines Dorfzentrums. Sie ist ein Mittelpunkt des Dorflebens», sagt Schär. Der Kirchenraum und das Kirchgemeindehaus würden regelmässig genutzt. Schär zählt auf: «Vom Projektchor, vom ehemaligen Kirchenchor, von der Spielgruppe, von Vereinen.» Es fänden Lesungen, Konzerte, Kurse, Versammlungen und Feste statt. Auch der Samariterverein Goldiwil-Schwendibach treffe sich monatlich in der Kirche. Für Zugezogene kann die Kirche ein Ort der Integration sein. Oda den Otter kam 1986 aus Zürich nach Goldiwil. Obwohl katholisch getauft, fand sie in der reformierten Kirche Anschluss. «Ich konnte mich einbringen, und heute kennt man mich im Dorf. Man grüsst mich, man weiss, wer ich bin.» Heute leitet sie den Samariterverein Goldiwil-Schwendibach, der in diesem Jahr 80-jährig wird und beim Dorffest am Samstag mit einem Stand präsent war.
Wandel und Schrumpfen der Kirche
«Früher war das so, dass man sich eben gefügt hat. Heute denkt man mehr nach. Man fragt sich: Warum machen wir das so? Muss das so sein?», sagt Walter Graf. Dieses Hinterfragen hat aber auch Spuren hinterlassen. Die Mitgliederzahlen der Kirchen sinken, vielerorts in der Schweiz ist der Besuch des Sonntagsgottesdienstes zur Ausnahme geworden. Kirchen würden auch Mitglieder an die Freikirchen verlieren, sagt Graf. Gerade im Berner Oberland sind diese sehr präsent. Über die Anziehungskraft solcher Gemeinschaften sagt Verena Schär: «Es ist schön, wenn jemand sagt: Toll, bist du da. Wie geht es dir?» Diese Haltung sei bei den Freikirchen sehr stark. Gleichzeitig seien die Leitlinien für Leben und Glauben dort oft deutlich spürbar und manche Menschen suchten wohl gerade diese klare Struktur, vermutet sie. Zwar haben sich auch in Goldiwil die Zeiten geändert, doch die Beziehung zur Kirche sei geblieben. «Wenn ein festlicher Gottesdienst, ein Konzert oder eben ein Dorffest ansteht, dann kommen die Leute», sagt Verena Schär.
Eine ungewisse Zukunft in Goldiwil
Trotzdem ist die Zukunft des kirchlichen Lebens in Goldiwil ungewiss. In Thun steht eine Fusion der fünf reformierten Kirchgemeinden zur Debatte. «Wenn man nüchtern rechnet, wird es in Zukunft nicht mehr so viele Gebäude und Strukturen brauchen, und wir können sie uns – Fusion hin oder her – auch nicht mehr leisten», sagt Schär. Was das für Goldiwil bedeute, sei offen, aber einen eigenen Kirchgemeinderat hätte das Dorf nicht mehr. «Für uns geht es nicht, dass man die Kirche schliesst», sagt Walter Graf bestimmt. «Da würden wir uns wehren.» Und Schär ergänzt: «Wir wünschen uns, dass Kirche und Kirchgemeindehaus, was auch immer geschieht, ein Dorfzentrum bleiben können.»
Quelle: www.thunertagblatt.ch, 13.06.2025, Ramon Cunz